Selbstwert oder Fremdwert?

Die meisten Menschen leiden an einem Minderwertigkeitsgefühl oder geschwächtem Selbstwert. Woran liegt das? Wer bestimmt unseren Selbstwert? Und wie können wir den Selbstwert steigern?

Was ist Selbstwert?

Der Selbstwert bezeichnet im engeren Sinne den Wert, den eine Person sich selbst zuschreibt. Nahe verwandt sind weitere Begriffe wie die Selbstbewertung. Ich betrachte mich selbst und fälle dann ein Urteil über mich selbst: «Ich bin ok» - «Ich bin nicht ok» - «Ich bin wertvoll» - «Ich bin wertlos». Und dann das Selbstwertgefühl. Darin sind eine Spanne von Gefühlen subsumiert, die ich empfinde, wenn ich über meinen Selbstwert nachdenke.

Jetzt wird es kompliziert: affektiv oder kognitiv?

Der sogenannte affektive Selbstwert-Sensor ist «erfühlt» aus Stimmungen, die aus Erfüllung oder Frustrationen von Grundbedürfnissen resultieren. Wir können mit ihm recht schnell «aus dem Bauch» heraus unseren Selbstwert einschätzen. Der kognitive Selbstwert-Sensor entwickelt sich in der Entwicklung eines Kindes später. Das kognitive System misst den Selbstwert durch den Abgleich unserer aktuellen Eigenschaften und Fähigkeiten mit einem Massstab («Wie bin ich und wie soll ich sein?»).

Doch eher ein Fremdwert?

Beide Sensoren, die uns zur Verfügung stehen, lassen es (leider) zu, dass unser Selbstwert nicht selten eher ein Fremdwert ist. Wenn gewisse Grundbedürfnisse nicht ausreichend genährt werden oder wenn der Abgleich mit anderen all zu oft negativ ausfällt, dann können wir es als Kind nicht schaffen, einen gesunden Selbstwert zu entwickeln. Das Selbst wird zum Fremden. Die eigene objektive Einschätzung ist nicht möglich und wir eignen uns ein Bild über uns selbst an, das weit davon entfernt ist, uns selber einen guten und positiven Wert zu geben. Die Folgen davon reichen dann weit in unser Erwachsenenleben hinein.

Das Bedürfnismodell

Bei der Stärkung des Selbstwerts geht es zunächst einmal darum, heraus zu finden, warum unser Selbstwert viel zu tief ist und woher das kommt. Es liegt nämlich meistens an Erfahrungen in unserer Kindheit und Jugendzeit, die dazu geführt haben, dass wir über uns schlechter denken, als es gesund ist. Das Bedürfnismodell geht von folgenden Überlegungen aus:

Ein gesunder Selbstwert braucht die Erfüllung der Bedürfnisse nach Bindung, Kompetenz und Autonomie. Werden diese drei grundlegenden Bedürfnisse dauerhaft frustriert, entsteht ein instabiler, niedriger Selbstwert.

  • Das Bedürfnis nach Bindung zeigt sich bei uns als Kinder, dass wir uns an jemanden binden, der uns versorgt. Und später hilft es, dass wir in der Gemeinschaft leben können, einen Partner finden und unsere eigenen Nachkommen versorgen.

  • Ein Bedürfnis nach Kompetenz hilft, die Fähigkeiten zu lernen und zu meistern, die wir zum Überleben und für unsere private wie auch berufliche Entfaltung brauchen.

  • Ein Bedürfnis nach Autonomie hilft, unsere eigenen Ziele zu verfolgen, statt nach einer fremden Pfeife zu tanzen.

Die drei Grundbedürfnisse Bindung, Kompetenz und Selbstbestimmung speisen somit den Selbstwert. Dabei spielen biografische Er-fahrungen ebenso eine Rolle wie die Bedürfnisbefriedigung in der Gegenwart. Ein Mangel kann aktuell bestehen und in der Gegenwart dem Selbstwert eine «Wunde» versetzen. Ebenso können Mängel in der Vergangenheit einen negativen Selbstwert geprägt haben – im Sinne einer «Narbe».

Nicht befriedigte Grundbedürfnisse können dazu führen, dass andere Bereiche überbetont werden, nach dem Motto: “Wenn das eine Bein zu schwach ist, lehne ich mich einseitig auf das stärkere Bein”. Wenn jemand z.B. schlechte Bindungserfahrungen macht, könnte sie beginnen, ihren Selbstwert hauptsächlich auf das Bein der Selbstbestimmung zu stellen. Wenn z.B. Eltern emotional kalt waren, kann ist man vielleicht versucht, diesen Mangel auszugleichen, indem man alles auf Erfolg setzt und zu einem «Selfmademan» wird, der auf niemanden ausser auf sich selbst beim Erreichen seiner Ziele angewiesen ist, keinerlei Abhängigkeiten von anderen Menschen zu kennen und sich selbst genug zu sein scheint. Kompetenz und Selbstbestimmung werden überbetont gegenüber dem Erleben und Suchen nach intimen Beziehungen und der Empathie für andere und dem Interesse an anderen Menschen.

Die drei Bedürfnisse mit möglichen negativen und positiven Glaubenssätzen

Um einen stabilen Selbstwert zu entwickeln, brauchen Menschen Liebe, Erfolg und Freiheit. Werden diese Bedürfnisse erfüllt, kann sich ein stabiler positiver Selbstwert entwickeln. Werden diese Bedürfnisse enttäuscht, entsteht eine negative Sicht auf sich selbst.

«Es liegt an mir…»

Damit negative Erfahrungen mit Grundbedürfnissen ihre volle schädliche Wucht entfalten, braucht es noch etwas, das Psychologen «internale Attribution» nennen: die betroffene Person sieht die Ursachen für ihre Erlebnisse bei sich selbst.

Beispiel

Stellen wir uns ein Kind vor, das von seinem Umfeld – seien es Eltern, Freunde, Mitschüler, Grosseltern – Ablehnung statt Liebe erführt. Das alleine müsste noch nicht zu einem negativen Selbstbild führen, das Kind könnte ja denken: «Ich bin völlig in Ordnung, leider habe ich Pech und wachse mit wirklich unfreundlichen, lieblosen Menschen auf. Aber das hat nichts mit mir zu tun».

Das wäre eine «externale Attribution»: Es liegt nicht an mir, es liegt an den anderen – oder den Umständen. Leider ist es unwahrscheinlich, dass Kinder so denken. Der Psychoanalytiker Harry Sack Sullivan prägte folgende Idee: Ein Kind, das von seiner Mutter schlecht behandelt wird, kann daraus nur zwei Schlüsse ziehen:

1.     «Mit mir stimmt etwas nicht, ich habe die schlechte Behandlung verdient.»

2.     «Mit meiner Mutter stimmt etwas nicht, sie behandelt mich falsch.»

Sullivan weist darauf hin, dass es für Kinder das kleinere Übel darstellt, sich selbst für verkehrt zu halten. Die Mutter anzuzweifeln, von der das Kind in allen Belangen abhängig ist, die für das Kind der Mittelpunkt der bislang bekannten Welt ist, würde das Kind noch viel mehr verunsichern, als an sich selbst zu zweifeln.

Manche Menschen vollziehen im Erwachsenenalter zum ersten Mal die Kehrtwende:

  • «Nicht ich war verkehrt, sondern meine Eltern (oder Mitschüler usw) sind falsch und ungerecht mit mir umgegangen. Das Kind, das ich war, war völlig in Ordnung. Kein Kind hätte diese Art des Umgangs verdient».

Ähnlich kann es mit den anderen Grundbedürfnissen geschehen: Stellen wir uns ein Kind vor, das mit unerbittlichen, übertriebenen Leistungsmassstäben aufwächst. Es kann diese Anforderungen nicht erfüllen und erlebt am laufenden Band Misserfolge. Das wäre unproblematisch, würde das Kind denken:

  • «Meine Fähigkeiten sind gut genug, ich habe viel auf dem Kasten – leider wird von mir viel zu viel erwartet, aber den Schuh muss ich mir ja nicht anziehen».

Auch hier müssen wir es für unwahrscheinlich halten, dass ein Kind diesen gesunden Schluss ziehen kann. Vielmehr wird es aus seinem Scheitern lernen: «Ich bin nicht gut genug, ich bin unfähig».

Ein Kind, das nie eigene Entscheidungen treffen darf und nur tun muss, was ihm gesagt wird, wird leider nicht denken:

  • «Ich hätte wirklich das Zeug dazu, selbstbestimmt zu leben, leider lässt mich keiner».

Vielmehr wird es annehmen:

  • «Ich bin nicht in der Lage, eigene Entscheidungen zu treffen. Besser höre ich auf die anderen». 

Fazit

Negative Erfahrungen mit Grundbedürfnissen werden vor allem dadurch schädlich für das Selbstwertbild, dass man bei sich selbst den Grund dafür sieht, dass man nicht geliebt wird, Anforderungen nicht erfüllt oder nicht selbst bestimmen darf. «…und es liegt an mir» ist die Idee, die das Selbstwertbild verzerrt.

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